Bernhard Tokarz:
Material und Form - was ist in welcher Situation günstig für Tragwerke?
zugleich: Konstruktives Entwerfen beobachtet von Bernhard Tokarz
 

Die Schwerkraft ist, denke ich manchmal, etwas, das es im Paradies nicht gab. Eva mußte den Apfel vom Baum brechen, er fiel ihr nicht in den Schoß.

So wie wir, nach der Vertreibung aus dem Paradies, die Arbeit - ursprünglich als Strafe gedacht - zu etwas Kostbarem machen, etwas, das unsere Identität geradezu ausmacht (Rodin zu Rilke: "Il faut travailler, rien que travailler, et il faut avoir patience" - man muß arbeiten, nichts als arbeiten, und man muß Geduld haben (Lit. 1)), so machen die Menschen, seit sie bauen, die Schwerkraft sich zunutze zu Werken, die ihre Identität geradezu ausmachen.

Jedes feste Material ist ein potentielles Baumaterial: Stein, Stahl, Keramik, Glas, Segeltuch, Holz, Schilf, Erde, aber auch Wasser, ja sogar Wasser, denn Bauen ist ja nicht nur Wände und Dächer herstellen, sondern auch ein Klima, in dem wir gern leben.

Was ist aber gut wofür? Wir müssen, bei genauerem Nachdenken, weiterfragen: in welcher Situation? Zu welcher Zeit? In welchem Land? In welchem Klima?

Denn was nützt es, wenn ich weiß, Stahl nimmt Zugkräfte mit dem geringsten sichtbaren Volumen an Konstruktion und dem geringsten Konstruktionsgewicht auf, wenn ich ihn nicht bekomme oder wenn er an dem Ort, wo ich ihn verwenden möchte, zehnmal so teuer ist als Holz für die gleiche Leistung - oder ständiger Pflege bedürfte in der aggressiven Atmosphäre, der er ausgesetzt ist, damit er gegen Korrosion geschützt bleibt, wogegen vielleicht eine alternative Konstruktion aus Mauerwerk und Erde die Zugkraft gar nicht erst entstehen ließe?

Um die Verlegenheit noch deutlicher zu machen, sehen wir uns einmal zwei Alternativen näher an
:


1.    Alternativen

Zwei Bauten in einer - abstrakt gesehen - ähnlichen Situation (Abb. 1, 2, 3, 4), sie stehen nur wenige Kilometer voneinander entfernt, wir fanden sie bei einer unserer Exkursionen nach Spanien auf dem Wege in Südfrankreich: Das "stählerne" Bauwerk in Nîmes ist die Wohnanlage "Nemausus" des Architekten Jean Nouvel, das "steinerne", in Montpellier, die Wohnanlage "Antigone" des Architekten Ricardo Bofill und seiner Taller de Arquitectura in Barcelona.

Ähnliche Situation: Beides sind große Wohnbauten. Die Gliederung der Fassade faßt immer zwei Geschosse zusammen, dadurch wirken die Bauten weniger hoch. Das Dach kragt weit aus, damit es die Balkone darunter beschattet. Die Auskragung soll deutlich als bloßer Schirm wirken, nicht als Teil des Baukörpers. Deswegen ist eine breite Lücke zwischen Baukörper und Dach-Schirm, durch die man den Himmel sieht, durchschnitten nur von den schmalen Trägern, die den Schirm auskragend tragen. Die Balkone darunter bilden durchlaufende Bänder, bei beiden an dieser Stelle gebogen, beim ersten nach außen konvex, beim zweiten konkav und bei diesem nur in den obersten beiden Doppel-Geschossen.

Nahe den Häusern - und Teil der Komposition - stehen Platanenreihen. Sie verbreiten eine Atmosphäre von Wohnlichkeit. Zu dieser Atmosphäre trägt das weit auskragende Dach besonders bei. Es macht den Außenraum zu einem Innenraum, zu einem großen Zimmer, in dem Bäume stehen: es deutet ein Dach an, das anfängt, den Platz zu überdachen.

Ich halte für sehr wahrscheinlich, daß Nouvel bewußt so auffällige Entsprechungen baute. Er kannte "Antigone" sicher. Die Anlage wurde 1979 bis 1983 gebaut und Montpellier liegt ja nahe genug an Nîmes, und Bofill ist auch damals schon berühmt genug gewesen. "Nemausus" entstand etwa 1987.

Beide Bauten sind sich sehr ähnlich, was ihr "Schema" genannt werden könnte, ihre Situation, ihre Eigenschaften und Einzelheiten abstrakt gesehen, so wie ich sie gerade in Worten beschrieben habe, oder wie man als Bauherr die Aufgabe formulieren würde.

Und sie sind doch völlig verschieden in ihrem architektonischen Ausdruck, in Material, Konstruktion und Stil:

Das erste: offensichtlich Architektur von heute, unvoreingenommen, leicht, eher kühl, Formen der technischen Welt, Stahl in unkonventioneller Anwendung, sorgfältigste Details, wie im Modell 1:1 entworfen; das auskragende Dach ist ein Rost aus Stahlträgern, mit Lochblechen bekleidet; das andere Bauwerk auf den ersten Blick wie aus einer vorigen Epoche, Beton, der aussieht und aussehen soll wie der einheimische Kalkstein, massige Formen, grobe Details - auf den zweiten Blick, geradezu im Widerspruch zu diesem Stil, der historische Bauten assoziiert, technisch offenbar auf heutigem Stand in heutiger Betonbau-Fertigteil-Technik gebaut. Das weit vorspringende Dach, an der Stelle höchster Beanspruchung mit den geringsten Querschnitten ausgebildet, wirkt nicht nur prächtig, sondern durch die Übertreibung der Geste und die technisch absichtlich unlogische Formung zugleich ironisch, die Formen verspottend, die verwendet werden.


Welche ist die bessere Lösung?

Ist das nun typisch Stahl und typisch Beton? Oder eher typisch Nouvel und typisch Bofill? Ist es, allein als Konstruktion gesehen, Betonkonstruktion als Betonkonstruktion und Stahlkonstruktion als Stahlkonstruktion, gut gemacht? Dem Material ganz entsprechend konstruiert?

Selbst diese letzte Frage ist so einfach gar nicht zu beantworten. Mindestens kann man sich die Form der Stahlkonstruktion nicht in Stahlbeton gebaut vorstellen und die Form der Betonkonstruktion in Stahl auch nur, wie man Kulissen baut.

Aber ist selbst diese simple letzte Frage beantwortbar, ohne über die Architektur des Bauwerks als Ganzes zu reden, so wie ich die Frage, ob eine große Nase besser sei als eine kleine, nicht beantworten kann, ohne das Gesicht zu sehen?

Ich vermute, selbst wenn es einen Preisunterschied gäbe, der sich im Kaufpreis oder in der Miete der Wohnung niederschlüge, niemand würde sich deswegen entscheiden, in das eine oder das andere dieser Häuser zu ziehen.

Dennoch gibt es natürlich rationale Gründe für Material und Form. Es gibt materialgemäße Formen und logisch hat auch jede systematische Verbindung von verschiedenen Materialien zu einer Konstruktion einen eigenen Formenkanon.

Ich beschränke mich im folgenden auf Tragwerke, damit es nicht uferlos wird. Aber auch hier gibt es immer weitere rationale Gründe für Material und Form, die nichts mit der Tragfähigkeit zu tun haben, die aber ebenso starke Ursache für die Wahl von Materialien und Formen sind. Christopher Alexander: "A form should reflect all the known facts relevant to its design" (Lit. 2). Eine Form sollte alle Tatsachen widerspiegeln, die für ihren Entwurf von Bedeutung waren.

Das unterscheidet ja gerade Architektur von Malerei und Skulptur: das Notwendige oder mindestens das Nützliche ist eine wichtige Ursache für die Form. Je mehr und je unmittelbarer das für das Leben darin Notwendige, das für den Gebrauch Nützliche, bei Konstruktionen das Notwendige, das die Naturgesetze bedingen, in den Formen zum Ausdruck kommt, um so größer ist die Qualität der architektonischen Erfindung.

Der Begriff "Tragwerk" bezeichnet übrigens nicht einen Gegenstand, sondern eine Abstraktion.

Bauteile haben meist mehrere Aufgaben. Eine Wand, die trägt, umhüllt auch einen Raum, schützt gegen Wind und Kälte, grenzt meinen privaten Raum gegen den öffentlichen oder den Raum des Nachbarn ab. Sie ist, weil ich unwillkürlich mit meinem Haus identifiziert werde, mit ihren Eigenschaften Ausdruck meiner Eigenschaften. Deswegen fällt es manchem so schwer, ein Haus zu finden, wenn er es nicht selbst bauen kann.

Wenn ich die Wand also als Teil des Systems Tragwerk ansehe, dann sehe ich sie abstrakt nur in bezug auf eine einzige Eigenschaft an, ihre Tragfähigkeit. Die gleiche Wand ist Teil des Systems Schützende Hülle, Teil des Systems Wärmedämmung, Teil des Systems öffentliche Straße (Zum Begriff System siehe Lit. 3).

Wir sollten deswegen höchstens für kurze Augenblicke aus den Augen verlieren, daß wir nur von einem Aspekt einer Konstruktion reden und daß es erst das Ganze ist, das dem Einzelnen Sinn gibt. Denn gerade die vielen Fähigkeiten sind es, die - wenn wir von geeigneten Materialien reden - die Wahl so wenig ausrechenbar machen.

Ich gehe besonders auf Konstruktionen ein, in denen verschiedene Materialien mit ihren besten Eigenschaften zusammenwirken.


2.    Stahl-in-Beton-Konstruktionen

Stahlbeton ist kein Material, sondern ein Verbund zweier Materialien, die in einer Art Symbiose zusammenwirken. Der Begriff Symbiose wird in der Biologie gebraucht. Er bezeichnet das gesetzmäßige dauernde Zusammenleben zweier verschiedenartiger Lebewesen in solcher Intensität, daß sie existentiell aufeinander angewiesen sind, zum Beispiel Blütenpflanzen und Insekten.

Ebenso sind in Stahlbeton-Tragwerken Stahl und Beton aufeinander angewiesen. Beton ist hervorragend druckfest, aber im Vergleich dazu nur wenig und unzuverlässig zugfest. Stahl ist hervorragend für die Aufnahme von Druck- und Zugkräften geeignet, aber durch Rost und Feuer gefährdet. In Beton mit genügender Betondeckung eingebettet, wird er vom Beton dank dessen basischer Eigenschaften gegen Rost geschützt und im Brandfalle vor zu großer Erhitzung. Dafür nimmt er, Bewehrung genannt (mit e wie sich wehren), die Zugkräfte im Inneren des tragenden Elements auf, das sonst meist schon beim ersten Riß versagen würde. Die Stahlstränge sind die Muskeln im Körper des Betons.

Ich nenne diese Verbund-Konstruktionen Stahl-in-Beton-Konstruktionen im Gegensatz zu Stahl-Betonkonstruktionen, oder Stahl-Stahlbeton-Verbundkonstruktionen, bei denen beide Materialien äußerlich sichtbar bleiben (siehe unten).

Wie sieht ein Träger aus, bei dem beide Materialien mit ihren günstigen Eigenschaften auf günstigste Weise zusammenwirken? Nehmen wir als Beispiel den stabförmigen Träger auf zwei Stützen, den sogenannten Einfeldträger, ein Stahlbeton-Fertigteil, das an beiden Enden durch eine Wand gestützt wird. Von oben belastet wie üblich, indem beispielsweise ein Mensch darauf steht, wird er oben durch Druck, unten durch Zug beansprucht. Das kann man beobachten. Druck staucht das Material, die Druckzone wird folglich kürzer, Zug dehnt es, die Zugzone wird folglich länger. Infolge dieser Dehnungen und Stauchungen biegt sich der Stab, er "hängt durch", was man besonders gut bei vielen alten Holz-Dachkonstruktionen sehen kann. Wenn die Last bis zum Versagen des Trägers gesteigert wird, geht entweder die Druckzone durch Zerquetschen oder die Zugzone durch Zerreißen kaputt.

Ein Träger aus Stahlbeton ist günstig geformt, wenn in der Druckzone viel Beton und wenig Stahl, in der Zugzone viel Stahl und wenig Beton vorhanden ist. Ein besonders günstiger Träger ist also ein Träger, der Plattenbalken genannt wird, ein Träger mit T-Querschnitt (Abb. 5, Lit. 4). Seine Druckzone wird durch eine breite dünne Platte gebildet, die Zugzone ist viel schmaler, gerade so breit, daß die Zugbewehrung in möglichst nicht mehr als zwei Lagen Platz hat und daß schräg im Inneren des Trägers wirkende Druckkräfte den Beton des Steges nicht überanspruchen.

Die Mitwirkung der Platte (sie ist meist zugleich die Konstruktion der Deckenebene) verringert auch die Durchbiegungen des Tragwerks erheblich, da ein Querschnitt um so weniger verformbar ist, je größer er ist. So ist der Plattenbalken vor allem für weitgespannte Konstruktionen ebener Flächen, Decken und Dächer, die ideale Stahlbetonkonstruktion, bei großen Spannweiten häufig zusätzlich vorgespannt.

Vorgespannt heißt: ein Teil der Bewehrung wird vorweg durch große Zugkräfte gespannt und in diesem gespannten Zustand an den Trägerenden verankert. Das hat zur Folge, daß die Zugkräfte, die das Stabbündel spannen, als Druckkräfte auf den Beton wirken (Spannbeton müßte deswegen richtig vorgedrückter Beton heißen, die Franzosen sagen richtig béton précontraint).

Bei geeigneter Führung der Spannglieder wird genau die Zone unter Druck gesetzt, die später aus den Lasten Zug bekommt. So kann man Zugkräfte, die sonst zum Reißen des Betons führen, ganz ausschließen, den Beton damit mindestens für seine häufigen Lasten rissefrei halten und die Durchbiegungen drastisch verringern.

Eine besonders günstig geformte Konstruktion zeigt Abbildung 6, Detail aus einem großen Werkstattgebäude (Lit. 5). Die Deckenkonstruktion ist 18 Meter weit gespannt, das ist fast das Dreifache der zum Beispiel im Universitätsbau üblichen Spannweiten. Eine so weit gespannte Decke ist nur als Plattenbalkenkonstruktion vernünftig konstruierbar. Die Decke mußte auch feuerbeständig sein. Das ist mit Stahlbetonkonstruktionen leicht ohne oder mit nur geringem zusätzlichen Aufwand und Beachtung einiger Regeln zu erreichen.


Die Hauptträger dagegen konnten ohne Beeinträchtigung des Betriebs alle 7,50 Meter gestützt werden, waren also ohne weiteres als Rechteck-Querschnitte konstruierbar. So wurde eine Konstruktion möglich, die zugleich Raum für eine große Installation läßt, indem die Plattenbalkendecke nicht in gleicher Höhe wie die Hauptträger liegt, sondern höher, so daß zwischen Unterkante Platte und Oberkante Hauptträger ein Zwischenraum entsteht, hervorragend geeignet für große Kanäle der Installation, auch zu späteren Zeiten noch nachrüstbar. Gleichzeitig wird die Druckzone der Plattenbalken an der Stelle größter Stützenmomente, wo die Druckzone unten liegt, in der Durchdringung mit den Hauptträgern größer.

Ein zweites Beispiel, wie günstige Verhältnisse geschaffen werden, die eine günstige Form für das Tragwerk und für die architektonische Wirkung des Bauwerks zugleich entstehen lassen: ein Stadion in Bari (Abb. 7, Lit. 6).

Das Bauwerk liegt auf einer Anhöhe, der Architekt vergleicht es immer mit dem Castel del Monte (Abb. 8). Wie dieses durch seine starke plastische Gliederung und ungewöhnliche Form den Ort auszeichnet, so sollte auch das große Stadion (erbaut zur Fußballweltmeisterschaft 1992) nicht als plumpes Monstrum (wie anderenorts, auch in Italien), sondern trotz seiner Größe als ein für Menschenmaßstab faßliches Bauwerk entstehen. Ich gehe hier nicht auf die vielen guten Gedanken ein, die da verwirklicht wurden, nur auf einen, die Verwendung des Stahlbetons auf günstigste Weise, günstig für seine Wirkung als Architektur und als Konstruktion und für seine Komponenten Stahl und Beton.

Man nähert sich dem Bauwerk von unten. Es sollte also von unten ansehnlich sein, im Gegensatz zu fast allen anderen, die ich kenne, die dem, der auf sie zugeht, gewissermaßen die Kehrseite, die Hinterhofseite zuwenden, die Seite, die nichts als nützliche Tragwerke in brutalen Abmessungen zeigt. Beispiele in Deutschland: ich verschweige sie lieber, jeder kennt welche, der sich dafür interessiert.

Das Ziel war also, statt Schluchten von Haupt- und Nebenträgern eine zum Anschauen gestaltete, maßstäblich gegliederte Unterseite zu finden. Der erste Gedanke: die große Schüssel der Tribünen in Segmente zu gliedern, durch Zwischenräume getrennt und zugleich gelüftet. Der zweite Gedanke: Die einzelnen Segmente unten flächig zu schließen und die Flächen in sich auch wieder zu gliedern.

Das geschieht am einfachsten und ökonomischsten mit Trägern, die Plattenbalkenquerschnitt haben und die Platte unten. Damit die Platte nicht nur nichttragende Bekleidung ist, müssen die Träger so gelagert sein, daß infolge der Tribünen- und Dachlasten, die sie zu tragen haben, die Druckzone unten entsteht. Das ist der Fall bei einem aus einem kleinen Feld weit auskragenden Träger, der Schnitt zeigt das gewählte System (Abb. 9, Lit. 8). Auflager dieser Plattenkante an Plattenkante liegenden Nebenträger in radialer Richtung sind zwei Hauptträger in Ringrichtung. Sie geben ihre Last auf je zwei Stützen ab, so daß jedes Segment auf vier Beinen steht. Auch die Hauptträger sollten nicht massig aus der Unterseite herausstehen. Sie liegen also im gleichen Konstruktionsraum wie die Nebenträger, so daß sich beide durchdringen.

Die Konstruktion wurde folglich so hergestellt: die unteren sichtbaren Platten, an deren Sichtbeton-Qualität hohe Ansprüche gestellt werden, und der anschließende untere Teil der Stege sind Fertigteile, im Werk in Stahlschalung gefertigte Elemente. Sie bestehen aus drei Teilen, endend jeweils an den Hauptträgern. Diese werden ganz und gar in Ortbeton gemacht, da so die kraftschlüssige Verbindung mit den Nebenträgern und mit den Stützen am einfachsten ist, mit denen sie Rahmen in Ringrichtung bilden. Ebenso werden die oberen Teile der Nebenträger in Ortbeton hergestellt, die ja die ganze oben durchgehende Zugbewehrung aufnehmen müssen und daher als zu stoßende Fertigteile ungeeignet wären. Damit die Gliederung der Unterseite deutlicher und nicht nur durch die Fugen zwischen den Fertigteilen allein markiert wird, sind die Plattenunterseiten in Querrichtung (Ringrichtung) wie Muscheln leicht nach unten gewölbt. Das gibt der Unterseite ein blütenähnliches Aussehen (Abb. 10).

Nicht die nackte Notwendigkeit allein bestimmt die architektonische Wirkung, was ja immer etwas Liebloses hat, sondern der freie Wille des Gestaltenden, der hier auf selten glückliche Weise mit einer ganz vernünftigen günstigen Konstruktion in die Tat umgesetzt worden ist. Nichts, was man sich wegwünschte oder lieber anders wünschte, wenn es die Schwerkraft und die Gleichgewichtsbedingungen nicht gäbe!

Was im großen gilt, gilt für die einzelnen Konstruktionselmente in ganz gleicher Weise: wer wirklich Stahlbeton als eine Symbiose von Stahl und Beton sieht und nicht als eine Art Schienung, als eine Art Reparatur, als eine Art notdürftige Wiederherstellung des ursprünglichen ungerissenen Zustandes, der sieht die Bewehrung mit anderen Augen, der sucht Formen dafür, deren Vernünftigkeit und Schlüssigkeit so augenfällig ist, als wäre der Beton durchsichtig wie Glas und jeder Bewehrungsstab sichtbar.

Der normale Stahlbetonträger nach heutiger Konstruktionstechnik ist, als Einfeldträger zum Beispiel, ein oben und unten mit geraden Stäben horizontal und mit Bügeln auf seine ganze Länge vertikal bewehrter Träger. Das Bild gleicht verblüffend dem eines geschienten Beines (Abb. 11). Die Bügel dürfen normgemäß mit so kleinem Radius gebogen werden, daß sie mit ihrer vollen Tragfähigkeit gar nicht belastet sein dürften und natürlich auch nicht sind. Sie würden sonst in den Krümmungen den Beton zerbröseln. Theoretisch und experimentell läßt sich nun zeigen (Lit. 9), daß weit weniger als die Hälfte der in der Fertigung besonders teuren Bügelbewehrung genügt, wenn Beton und Stahl bis ins Detail als ein in Symbiose wirkendes Ensemble gesehen und konstruiert werden. Die Abbildungen 12 und 13 zeigen das Vorstellungsmodell von den wirkenden inneren Kräften und das diesem entsprechende Bewehrungsbild, Einzelheiten in Lit. 9. Solche Überlegungen lohnen natürlich vor allem bei großen, hoch bewehrten Trägern.

Oder die Wandscheibe mit Öffnung, eingesetzt als Träger. Das vorgeschlagene Bewehrungsbild (Abb. 14, Lit. 10) sieht schon von weitem wie eine Katastrophenmaßnahme aus, die die schädliche Wirkung der brutalen Störung durch das Loch begrenzen möchte. Viel einfacher und homogener wäre bei diesen Maß- und Steifigkeitsverhältnissen die Lösung, die Zone oberhalb des Loches allein als Träger auszubilden und den unteren Teil der Wand samt Deckenlast mit dünnen, nur die Rißweite beschränkenden Netzbewehrungen hinaufzuhängen. Diese Netzbewehrungen müssen im übrigen auch bei dem ersten Bewehrungsvorschlag auf beiden Wandseiten vorhanden sein.

Besonders unfruchtbar, ja abwegig ist die Vorstellung von Stahlbeton als von einem Verbundwerkstoff. Das mag höchstens bei Stahlfaserbeton oder Glasfaserbeton angehen, wo die Fasern, kurz und dünn, einfach nach Menge und ohne weiteres Nachdenken zugesetzt werden (Lit. 11 und 19) wie Sauerkraut im Sczegediner Gulasch, verwendbar zum Füllen der "Kammern" von Stahlprofil-Trägern und -Stützen zur Erhöhung ihrer Feuerwiderstandsfähigkeit (Abb. 15, Lit. 11).

Im Versuchsstadium befinden sich Träger, die mit Litzen aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) bewehrt und vorgespannt sind. Sie sind im Gegensatz zu Stahl nicht korrosionsgefährdet. Ihr Nachteil ist: sie verhalten sich elastisch bis zum Bruch, es fehlt ihnen das ausgeprägte plastische Formänderungsvermögen des Stahls, die Duktilität, die ein plötzliches Versagen ausschließt, ein Versagen ohne ankündigende Anzeichen durch große Formänderungen. Die beiden Diagramme (Abb. 16, Lit. 12) zeigen das unterschiedliche Verhalten.

Da wir einen plötzlichen Bruch ohne Vorankündigung unbedingt vermeiden möchten, werden die CFK-Litzen nur zu 50 Prozent vorgespannt, so daß Formänderungsreserven vor dem Bruch vorhanden sind.

Eine mindestens so starke Ursache für die Wahl von Stahlbeton wie seine hervorragenden Trageigenschaften sind seine Schallschutz- und Brandschutzeigenschaften. Im mehrgeschossigen Wohnungsbau sind Stahlbetonplatten (Massivplatten) von 16 cm Dicke und mehr zum gleichen Preis von keiner anderen Konstruktion zu ersetzen, was Luftschall angeht (die Schalldämmung homogener einschaliger Bauteile hängt im wesentlichen von ihrem Flächengewicht ab). Körperschall wird dagegen gut geleitet, deswegen müssen die tragenden Platten durch nichttragende Konstruktionen ergänzt werden, die Trittschall dämpfend wirken. Bei etwa 30 cm Plattendicke genügt dafür bei normaler Wohn- und Büronutzung bereits ein weicher Teppichboden allein.

Nicht zuletzt die große Wärme- und Kühle-Speicherfähigkeit von Betonbauteilen ist für die, die etwas davon verstehen, ein Grund, das Material zu wählen. Sie gleicht in einem Klima, in dem große Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, kaltem und warmem Wetter herrschen, die Extreme aus. Das gilt ebenso für schweres Mauerwerk. Deswegen haben selbst Bauten, die von außen wie Holz- oder Stahlbauten aussehen, neuerdings oft innen einen solchen schweren Kern.

Ungünstig ist allerdings die hohe Wärmeleitfähigkeit von Stahl und Beton. Sie macht es in unserem Klima unmöglich, Stahlbetonkonstruktionen von innen nach außen durchgehen zu lassen (siehe unten).


3.    Bein oder Krücke - auch Mauerwerk steht selten allein

Konstruktionen aus Mauerwerk sind hervorragend geeignet, große Druckkräfte zu tragen - wenn sie geeignet geformt sind. Auch hier kann über Material nicht geredet werden, ohne über Formen zu reden, hier vielleicht am wenigsten.

Mauerwerk ist noch empfindlicher gegen Zugkräfte als Beton, die Mörtelfugen zwischen den Steinen sind potentielle Sollbruchstellen für Zug. Zwar gibt es bewehrtes Mauerwerk und inzwischen sogar vorgespanntes Mauerwerk (Lit. 13), aber das sind doch eher Konstruktionen wie Krücken und Schienen statt gesunde Beine, sofern sie handwerklich auf der Baustelle hergestellt werden und nicht seriell in großen Einheiten im Werk.

Mauerwerkselemente sind, allgemein gesagt, hervorragend geeignet für Kräfte in ihrer Ebene, Kräfte, bei denen die Wand als "Scheibe" wirkt, dagegen wenig geeignet für Kräfte quer zu ihrer Ebene, Kräfte, bei denen die Wand als Platte wirkt. Man braucht sich nur eine senkrecht stehende Wand an ihren Rändern gefaßt und in die Horizontale gehoben vorzustellen, um das einzusehen. Da aber, wie in Abschnitt 4 beschrieben wird, jede druckbeanspruchte Ebene wie ein druckbeanspruchter Stab durch Ausweichen aus der Ebene gefährdet ist - durch Knicken oder Beulen -, ist jede Form günstig, die diese Gefahr verringert oder womöglich ausschließt.

Ungünstig sind also Wände, die wie ein schlanker Stab nur oben und unten gehalten oder nur unten
allein gehalten und eingespannt sind. Günstig sind Wände, die außer in den Deckenebenen auch noch durch Querwände seitlich gehalten und ausgesteift werden.

Denn jede mit der tragenden Wand kraftschlüssig verbundene Querwand ist eine Stelle, an der die tragende Wand nicht mehr seitlich ausweichen kann, und diese stabilisierende Wirkung erstreckt sich so weit beiderseits, daß nach der Norm eine 24 cm dicke und bis zu 3,50 m hohe Wand als vierseitig gehalten gilt, wenn die Querwände bis zu 8,0 Meter Abstand haben.

Der typische hochbelastbare Mauerwerksbau hat eine Zellen-Struktur, nicht eine Lamellen-Struktur (Abb. 17), im großen also etwa wie ein Baumstamm im kleinen: die Struktur eines Röhrenbündels! Diese Struktur ist übrigens in allen Materialien günstig. Sehr hohe Hochhäuser, wie der über 400 Meter hohe Sears-Tower in Chicago, ein Stahlbauwerk, sind als Röhrenbündel konstruiert. Auch das Castel del Monte mit seinen vieleckigen Türmen gehorcht diesem Prinzip (Abb. 8)!

Innenwände enden folglich günstig an der Fassade mit "Flansch", nicht stumpf mit der schmalen Kante (Abb. 18). Die günstigste Außenwand für Mauerwerksbauten ist also nicht die ganz aus Fenster bestehende, sondern die sogenannte Loch-Fassade, eine Mauerwerkswand, in die die Fenster als Löcher eingeschnitten sind. Zwischen den Fenstern bleiben genügend breite Wandpfeiler stehen, die die Innenwände aussteifen, oberhalb und unterhalb der Fenster bleibt genügend Sturz und Brüstung, um die Öffnung zu überbrücken.

Noch besser als ebene Wandscheiben, ausgesteift durch ebene Querwandscheiben, sind gekrümmte Wände (Abb. 19). Sie ähneln in ihrer Tragwirkung unter Horizontallasten den Deckengewölben unter Vertikallasten. Hier gibt es kaum noch "sekundäre Biegung" sondern überwiegend Membranspannungen, das sind Spannungen gleichmäßig über die Wanddicke verteilt, wie sie als gleichmäßige Zugspannungen in einer biegeweichen Haut (= Membran) auftreten (können).

Öffnungen in Wänden werden entweder durch Träger überbrückt, die aus anderen Materialien bestehen, früher, vor allem im ländlichen Raum, mit Holzbalken (Abb. 20), heute mit Stahlbeton- oder Walzprofil-Trägern; oder sie werden durch mauerwerkseigene Konstruktionen überspannt, die dann, da Mauerwerk nur Druckkräfte aufnehmen kann, Gewölbe sein müssen. Auch der scheitrechte Sturz (Abb. 21) ist seiner Wirkung nach ein Gewölbe.

Mauerwerk hat im allgemeinen keine gute Wärmedämmfähigkeit. Deswegen werden auch Bauten, die von außen wie homogene Mauerwerksbauten aussehen, tatsächlich meistens mehrschalig konstruiert: innen die tragende Schale, außen die sogenannte Verblendschale aus hochwertigen frostbeständigen Steinen, dazwischen Wärmedämmung mit und ohne Luftschicht unmittelbar hinter der Verblendschale. Das Wort "Schale" ist hier übrigens in der Bedeutung "Schicht" gebraucht, nicht, wie eben bei den gekrümmten Wänden, als ein Tragwerk mit Schalenwirkung, einer räumlichen Tragwirkung wie bei der Eierschale.

Die Verblendschale selbst gehört zu den schönsten Außenwandbekleidungen. Die handwerkliche Fertigung und die herstellungs- und materialbedingt mögliche Ungleichförmigkeit und Ungleichfarbigkeit, besser gesagt, das reiche Farbenspiel vieler Steine, geben ihr eine Lebendigkeit, die die oft allzu einförmigen Glas-, Blech- und Beton-Fertigteil-Bekleidungen aussticht.

Mauerwerk als Verblendschale hat leider das Pech, von vielen Architekten als eine Art Haut oder Tapete und nicht als Konstruktion gesehen zu werden. Das hat die üble Folge, daß die Öffnungen oft nicht wie im Lasten tragenden Mauerwerk mit Gewölben oder mit sichtbaren Trägern überbrückt werden, sondern gewissermaßen heimlich mit absurd anmutenden Stahlhilfskonstruktionen an den dahinter liegenden Trägern der tragenden Wand angehängt werden (Abb. 22). Das Mauerwerk geht optisch dabei über der Öffnung im Verband weiter als gäbe es sie nicht, was in meinen Augen dem Anblick eines über die Wasseroberfläche Gehenden ähnelt.

Ich habe mir nun eine Konstruktion ausgedacht und gebaut, die, besonders bei größeren Öffnungen, das "Fremdmaterial" minimiert und trotzdem ganz sichtbare Konstruktion ist: Es wird ein Träger aus Mauerwerk und Stahlbeton in "Symbiose" gebildet. Das Mauerwerk bildet die Druckzone, der Stahlbeton die Zugzone, eigentlich genauer der Stahl im Beton als Zugstrang, der Beton ist hier nur noch Widerlager über den Auflagern und im übrigen Korrosionsschutz der Bewehrung, des Stahl-Stranges (Abb. 23).

Die Steinfugen lägen sicher am besten radial wie beim scheitrechten Sturz. Viel einfacher zu fertigen ist jedoch das System mit vertikalen Fugen. Es ist bei lichten Öffnungen bis etwa 2,40 Meter Breite ohne weiteres möglich.

Das Schöne an dieser Konstruktion ist, daß die Stahlbetonkomponente sich, nicht zuletzt dank der sorgfältig gestalteten Auflagerzone, die die Ecke der Öffnung einfaßt, ganz mühelos in den Mauerwerksverband einfügt und gar nicht als ein Fremdkörper wirkt. Sie wird auch optisch mit dem Mauerwerk "verflochten". Sie ist keine Krücke mehr sondern etwas wie eine Sehne in Muskeln.

Später fand ich in Mauerwerksbauten von Louis Kahn und August Komendant eine Spielart dieses Prinzips für größere Spannweiten, richtige gemauerte Gewölbe mit Zugbändern aus Stahlbeton, ähnlich den in der Renaissance gebauten Gewölben mit schmiedeeisernem Zugband (Abb. 24, Lit. 14).

Also: Auch Verblendungen sind Konstruktionen. Ihre Gestaltung mit heutigen Mitteln steht erst am Anfang. Daß man mit Mauerwerk auch große Flächen überdachen kann, zeigen die alten Dome. Hier wird der Horizontalschub der Gewölbe durch das Gewicht der Wände und Pfeiler aufgenommen, Zugbänder sind fast immer nachträglich eingesetzt, wenn die Pfeiler zu sehr auswichen und wirken deswegen als wegwünschenswerte Hilfskonstruktionen.

Eben ist am Institut für Tragwerksentwurf und Bauweisenforschung der Universität Hannover von Martin Speth, angeregt durch die "Ziegelschalen" des Eladio Dieste in Uruguay, eine langgestreckte Dachschale allein aus durch Mörtel verbundenen Ziegeln entstanden, also ohne die kreuzweisen Stahlbetonrippen der Schalen von Dieste (Abb. 25 und 26). Ihr Horizontalschub wird durch ein Stahlbeton-Widerlager aufgenommen und über zwei stählerne Zugstäbe mit dem Widerlager der anderen Seite verbunden, so daß das Tragwerk auf seine Auflagerkonstruktion infolge vertikaler Lasten nur vertikale Auflagerkräfte abgibt. Das Stahlzugband kann nun im Beton mit genügender Länge und Haftung verankert werden, der Beton"knoten" bringt auch die gleichmäßig verteilt ankommenden Druckkräfte der Mauerwerksschale mit den beiden punktweise anschließenden Zugbändern ins Gleichgewicht. Ein Zusammenwirken von drei Materialien.

Die doppelte Krümmung dieser dünnen Mauerwerksschale (das englische Wort shell, das auch Muschel und Schneckenhaus heißt, ist deutlicher, ist ein stärkeres Bild!) gibt ihr eine große Steifigkeit und verhindert ein Beulen oder Knicken des als Zweigelenkbogen wirkenden Tragwerks. Die freien Ränder liegen je in einer vertikalen Ebene, so daß die Elemente unmittelbar aneinander gereiht werden können. Bei kraftschlüssiger Verzahnung der Ränder benachbarter Schalenelemente entsteht infolge Faltwerkwirkung eine weitere, besonders günstige Versteifung des Tragwerks. Hier ist Mauerwerk, Beton und Stahl in schöner Symbiose verbunden, auch optisch-ästhetisch. Jedes Element leistet, was es am besten kann, und fast alles ist auch für Laien sichtbar und verständlich. Mühelos könnte das straff gespannte Zugband in einem wirklichen Bauwerk auch die Beleuchtungskörper tragen und damit eine zusätzliche nützliche Funktion übernehmen.

Zu welchen fast unglaublichen Leistungen der Mauerwerksbau mit Schalenformen im Zusammenwirken mit zugfesten Materialien in der Lage ist, zeigt eine Shed-Halle in Terrassa, etwa 35 Kilometer nordwestlich von Barcelona, erbaut von Lluis Muncunil im Jahre 1911 (Abb. 27). Sie wurde seit 1991 saniert und inzwischen als Technikmuseum eingerichtet. Die Halle selbst ist der schönste Ausstellungsgegenstand. Die Schalen sind in der katalanischen Gewölbebautechnik gemacht, flache Ziegel in hier vier Lagen. Die Ziegel bilden auch die sichtbare Oberseite der Dächer! Die Dachfläche ist an jeder Stelle in beiden Hauptrichtungen gekrümmt.

Berühmte Konstruktionen in der Kombination von Stahlbeton und Mauerwerk wie das Medical Research Building in Philadelphia von Louis Kahn und August Komendant (Abb. 28) eignen sich im Stuttgarter Klima nicht als Vorbilder in technischer und bauphysikalischer Hinsicht. Hier liegt das die Fassade bildende Mauerwerk auf dem Rand der tragenden Stahlbetonkonstruktion auf, so daß diese tragende Stahlbeton-Konstruktion, hoch wärmeleitfähig, von innen nach außen geht. Das ist im mitteleuropäischen Klima und im Gültigkeitsbereich der deutschen Wärmeschutzverordnung nicht mehr möglich.


4.    Nur Stahl ist sich manchmal selbst genug

Stahl: Seine besten Eigenschaften sind seine hohe Festigkeit, seine Duktilität, das ist seine Fähigkeit, vor dem Versagen große plastische Formänderungen mitzumachen, so daß er nicht plötzlich und schlagartig versagt wie ein spröder Baustoff, wie Glas oder Beton, sondern allmählich "in die Knie geht"; und seine einfache Verbindungstechnik durch Schrauben, Schweißen, Stecken und bald wahrscheinlich auch Kleben. Sie erlaubt, zusammen mit seiner hohen Festigkeit, Anschlüsse eines Konstruktionselementes an ein anderes auf kleinstem Raum - und sie erlaubt einen hohen Grad an Vorfertigung in der Werkstatt.

Eine Vorstellung von der Tragfähigkeit von Stahl gibt vielleicht folgender Vergleich: Wir treten, wenn wir am Strand entlang gehen und unser Gewicht einen Augenblick lang auf einem Fuß ruht, den Sandboden mit etwa 0,004 Kilonewton (kN)/cm2. Einfacher Baustahl St 37 trägt unter Gebrauchslast 16 kN/cm2, das ist 4000 mal so viel. 16 kN/cm2 sind Spannungen, wie sie unter der Last einer Stahlsäule von 2038 Metern Höhe, höher als der Feldberg über dem Meeresspiegel, pressen würden. Die unter Gebrauchslast ausnutzbaren Spannungen hochfester Stähle, wie sie zum Beispiel in Seilen verwendet werden, sind etwa viermal so groß. Zum Vergleich: Beton der Festigkeitsklasse B 35 erträgt unter Gebrauchslast rechnerisch Spannungen von 1,3 kN/cm2, das entspräche der Last einer 542 Meter hohen Stahlbetonsäule oder einer 166 Meter hohen Stahlsäule. Nadelholz der Güteklasse II erträgt unter Gebrauchslast eine Spannung von 1,1 kN/cm2, das entspricht dem Druck einer 1833 Meter hohen Holzsäule, wenn das möglich wäre, oder einer Stahlsäule von 140 Metern Höhe.

Solche Beanspruchungen wirken in unseren Stahlkonstruktionen unter den alltäglichen Lasten. Bevor es zum Versagen durch Fließen, durch Plastischwerden des Materials kommt, sind sie noch wesentlich höher. Diese höheren Beanspruchungen dürfen allerdings durch die alltäglichen Lasten nicht ausgenutzt werden. Den Faktor, um den die Last, die zum Versagen des Tragwerks führen würde, größer ist als die im tatsächlichen Gebrauch voraussichtlich auftretende, nennt man den Sicherheitsfaktor. Er gewährleistet, daß nicht schon geringe Ungenauigkeiten bei Lastannahmen, Herstellungsgenauigkeit, Materialqualität, Berechnungsannahmen und Berechnungen zu einem Einsturz der Konstruktion führen.

Stahl ist zwar gleich gut für die Aufnahme von Druck- und Zugkräften geeignet, seine hohe Druckfestigkeit ist nur häufig nicht ausnutzbar, da hochfeste Druck-Stäbe schlank sind, infolge ihrer großen Schlankheit empfindlich gegen Ungenauigkeiten in der Form und ungleichmäßige Lasteinleitung, so daß wir im allgemeinen annehmen müssen, daß der Stab krumm ist und nicht gerade, die Lasteinleitung exzentrisch und nicht genau zentrisch, der Stab also infolgedessen nicht nur durch eine Längskraft gleichmäßig, sondern zugleich durch ein Biegemoment zusätzlich ungleichmäßig belastet wird, letzteres um so mehr, je schlanker der Stab ist. Das kann man sich leicht vorstellen, wenn man sich erst auf einen Zaunpfahl und dann auf ein schlankes Bambusrohr stützt, die als Zugstäbe beide gleich viel trügen. Der dünne Stab weicht aus der geraden in eine krumme Form aus, der Fachausdruck lautet er knickt, oder, in der Praxis meistens, wird, da er schon ursprünglich nicht ganz gerade ist, immer krummer bis er versagt. Man nennt diese Art von Versagen Stabilitätsversagen.

Es gibt zwei sich statisch und optisch deutlich unterscheidende Tragwerksformen im Stahlbau: Bei den vollwandigen Tragwerken ist der Zwischenraum zwischen dem Druck- und dem Zuggurt, dem Druck- und dem Zugflansch durch ein Blech wie durch eine Wand ausgefüllt. Bei den sogenannten Stabwerken werden wie bei einem Netz alle Kräfte durch dünne Stäbe statt durch flächige Bauteile aufgenommen.

Ich zeige ein nicht alltägliches Bauwerk, eine ungewöhnliche Straßenbrücke, die ich in Alternativen entworfen habe. An zweien von ihnen kann man diesen Unterschied besonders gut beobachten (Abb. 29 und 30). Ich gehe nicht auf die Besonderheiten der Aufgabe ein, die zu dieser besonderen Lösung geführt haben und die vielen guten Gedanken, die hier sonst noch Konstruktion geworden sind (Lit. 15). Die Brücke ist die Idealform für ein Stabbogen-System mit nur wenigen Aufhängungen der Fahrbahn an dem Bogen. Der Bogen selbst ist hier, dem Lastbild entsprechend, als Polygonzug gebaut. Er hat nicht die übliche konstante sondern extrem ungleiche Konstruktionshöhe. Die konstante Höhe ist die günstigste Querschnittsform, wenn der Bogen, der Polygonzug, genau die Form der Stützlinie für Vollast auf der ganzen Brücke hat. Bei unsymmetrischer Last, zum Beispiel Verkehrslast nur auf halbe Brückenlänge, wirken erhebliche Biegemomente im System. Sie sind in den Viertelspunkten der Spannweite am größten. Deswegen ist hier die gewählte Form mit großer Querschnittshöhe in den Viertelspunkten besonders günstig, vor allem bei großen Verkehrslasten.

Dieses System läßt sich als Konstruktion sowohl mit vollwandigen Elementen (Abb. 29) wie mit einem Stabwerk aus dünnen Stäben (Abb. 30) verwirklichen, man könnte sagen, der vollwandige Träger läßt sich in seine Haupt-Trag-Stränge, in Druck- und Zugstäbe mit quadratischem oder kreisförmigem Rohrquerschnitt auflösen.

Welche ist die bessere Lösung? Das wäre mit rationalen Argumenten gar nicht leicht zu sagen. Statisch-konstruktiv sind sie gleichwertig. Einen preislichen Unterschied könnte man nur durch Vergleichsangebote erfahren. Die größere Materialmenge der vollwandigen Lösung steht einem größeren Fertigungsaufwand der aufgelösten Konstruktion gegenüber.

Gewählt wurde von den etwa zehn Mitentscheidenden einstimmig die Vollwand-Version. Hauptgrund war, daß sie eine noch nicht gesehene Form war, am weitesten entfernt von gewohnten Formen der Brücken. Das ist mitten in einer Großstadt ein wichtíger Grund, denn eine solche Brücke ist auch Identifikationsort eines Stadtviertels, ein Ort an dem man sich verabredet und trifft.

An dieser Stelle ein Exkurs zu dem Schlagwort, dem Modewort, dem Modebegriff "Entmaterialisierung".

Viele sind der Meinung, das ideale Tragwerk wäre das fast unsichtbare, das mit einem Minimum an sichtbarer Masse arbeitende. Entmaterialisierung ist der Leitgedanke. Ich denke nicht so und ich habe die Erfahrung gemacht, daß auch andere nicht so denken.Viele, auch ich, freuen sich an der Körperlichkeit der Gegenstände, der Massigkeit eines Berges, der Dicke eines Baumes, der Schwere einer Mauer, dem optischen Gewicht eines großen Daches. Ich denke, es ist schön, daß es beides gibt, das Schwere und das Leichte, so wie Sommer und Winter. Ich könnte mit einem Gemeinplatz sagen: das Leichte wäre nicht leicht, wenn es das Schwere nicht gäbe. Der Gegensatz ist fruchtbar.

Stahl als Stabwerk kann seine hohe Tragfähigkeit bei gleichzeitig geringer Gefährdung durch Stabilitätsversagen am besten in räumlichen Strukturen entfalten: Faltwerke oder schalenähnlich gekrümmte Flächen aus in ihrer Fläche kinematisch unverschieblichen Fachwerken (Lit. 16). Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einem Dach, bestehend aus pyramidenförmigen Faltwerken (Abb. 31, Lit. 5). Bei 18 Metern Spannweite sind die Profile maximal 30 cm hoch, also ein 60stel der Spannweite, und selbst diese Höhe könnte noch geringer sein, wenn nicht an jeder Stelle verhältnismäßig schwere Installationen anzuhängen sein müßten. Auch hier übrigens wurde die Tragwerksform nicht allein aus statischen Gründen gewählt. Die Form ermöglicht gleichzeitig, günstig kleine, leicht zu entrauchende Halleneinheiten zu bilden. Die spitze aufgesetzte Pyramide enthält die Entrauchungsöffnungen.


5.    Das Leichte braucht das Schwere - Gespannte Membranen und Netze

Aus der Welt der gespannten Membranen und Netze ein Bauwerk, das bei weitem am meisten geglückte, das ich kenne, das große Dach des Flughafen-Terminals Jeddah, geschaffen vor allem für die Pilger als Schattendach zum Aufenthalt zwischen der Ankunft mit dem Flugzeug und der Abfahrt mit Bussen in das 70 Kilometer entfernte Mekka. Es wurde entworfen von Fazlur Khan, Ingenieur im Architekturbüro Skidmore, Owings und Merrill, New York, der von sich sagte, er habe nie Lust gehabt, ein Spezialist zu werden und der doch in seinen Werken die Spezialisten übertraf (Abb. 32 und 33).

Die große Leistung ist diese vollkommene konstruktive und architektonische Einheit aus den gespannten dünnhäutigen Schirmen und den schweren Stahlrahmen, gegen die gespannt wird. Das Bauwerk ist so vollkommen bis zum Detail gestaltet, daß trotz der Reihung so vieler gleicher Einheiten, 210 Schirme von 45 x 45 Metern Seitenlänge, keine Spur von Langeweile und Eintönigkeit aufkommt. Die große Leistung ist auch die vollkommene Kongruenz von Konstruktion und Zweck. Das große, schattenspendende Dach bewirkt durch die Form seiner oben offenen Schirme anscheinend eine ständige kühlende Luftbewegung von etwa 30 Kilometer/Stunde, die den Aufenthalt darunter angenehm wie unter Bäumen einer Oase macht.

Die Schirme sind aus beiderseits teflonbeschichtetem, kriech- und schwindarmem Glasfasergewebe gemacht. Jede Membran ist durch 32 Kabel radial "seilunterstützt". Auch hier entsteht das Vollkommene erst in der Symbiose.

Dünne Membranen oder Seilnetze müssen zwei Bedingungen erfüllen, damit sie nicht im Wind flattern und im Sturm zerrissen werden: sie müssen straff gespannt werden wie das Tuch eines Regenschirmes und sie müssen, damit das mit verhältnismäßig geringen Kräften möglich ist, doppelt gegensinnig gekrümmte Flächen bilden, Sattelflächen, wie der Regenschirm auch, der radial in Richtung der spannenden Speichen gewölbt ist und quer dazu in Ringrichtung zwischen den Speichen flache Täler bildet, durchhängend gekrümmt. Die Schirme von Jeddah sind genau entgegengesetzt - radial durchhängend gekrümmt und in Ringrichtung bauchig gewölbt gekrümmt. Das Bild zeigt, wie sie unten an den vier Ecken und oben am Ring um das Lüftungsloch gefaßt und an die schweren stählernen Masten beziehungsweise Rahmen gehängt sind. Sie werden durch Anziehen der Aufhängung gespannt.

Die Rahmen haben besonders günstige Form für die Aufnahme großer horizontaler Lasten: Im Vergleich zu den Stielen sind die Riegel sehr steif. Das minimiert die ungünstigen Biegebeanspruchungen in den Stielen und läßt diese schweren Bauteile trotzdem in den Grenzen des Möglichen schlank und nicht plump erscheinen.

Ich finde besonders gut, daß die schweren Konstruktionen, gegen die die leichten gespannt werden, im wesentlichen sichtbar sind. So versteht auch ein Laie das Ganze im Zusammenhang. Auch ästhetisch ist der Gegensatz ein besonderer Reiz. Sehr viele dieser gespannten Konstruktionen wurden anders gebaut. Weil viele die Leichtigkeit von Konstruktionen zum Dogma machten, wurden die schweren verankernden Widerlager und Ballaste im Baugrund versteckt und verschwiegen, mit bloßem Auge sieht man nur den leichten Teil der Konstruktion, den schweren nicht. (Nur die zwischen im Grundriß kreisförmigen Randgliedern ähnlich dem Rad eines Fahrrades gespannten Konstruktionen kommen ohne den großen Ballast aus. Hier werden die Ankerkräfte im Randglied "kurz-geschlossen", das heißt miteinander ins Gleichgewicht gebracht, so daß auf den Unterbau aus vertikalen Lasten nur noch vertikale Kräfte wirken. Leider sehen diese Bauten oft als Ganzes etwas einfältig aus, da man ihnen den technischen Zwang ansieht, der den Entwurf beherrscht hat.)


6.    Eine besondere Art der Verbundkonstruktionen: Stahl-in-Beton an Stahlprofilen

Eine besondere Art der Verbundkonstruktionen ist der Verbund von Stahlbetonplatten (Stahl-in-Beton-Platten!) mit Stahlprofilen. Er treibt gewissermaßen das Plattenbalken-Prinzip (siehe Abschnitt 2) auf die Spitze, indem nur noch die Platte in der Druckzone aus Beton übrigbleibt, Steg und Zuggurt sind nur noch Stahl, Profilstahl oder geschweißte Träger (Abb. 34). Beide, Stahlbetonplatte und Stahlprofil, werden mit Verbundmitteln kraftschlüssig verbunden, die ein Gleiten der Betonplatte auf dem Stahlflansch verhindern. Einziges Handicap dieses Tragwerks: Stahl ist hitzeempfindlich. Ab etwa 400° C verliert er rapide an Tragfähigkeit. Dies führt nun dazu, daß doch das Stahlprofil mit Beton umhüllt wird, sobald Feuerwiderstandsfähigkeit notwendig ist. Mindestens werden die "Kammern" des Profils mit Beton gefüllt und in diesem für den Brand-Katastrophenfall Bewehrung wie bei einem Stahlbeton-Plattenbalken eingelegt, da die Tragkraft des im Brandfalle ausfallenden Stahlflansches von dieser Bewehrung übernommen werden muß, allerdings mit einem Sicherheitsfaktor von nur 1,0 (Abb. 35).

Statt mit einem Stahlprofil kann die Massivplatte auch mit einem stählernen Fachwerk verbunden werden und dessen Druckgurt sein. Die Abbildung 36 (Lit. 17) zeigt eine solche Konstruktion als Brücke.

Ein ähnlich wirkendes Verbundsystem gibt es für die massive Deckenplatte selbst. Hier wird die Bewehrung durch gefaltete Bleche ersetzt, die zugleich Schalung sind (Abb. 37, Lit. 18). Brandversuche haben ergeben, daß mit dieser Konstruktion sogar die Feuerwiderstandsklasse F 90 erreichbar ist. Die schwalbenschwanzförmigen Auffaltungen stellen den Verbund zwischen Blech und Beton im Feld durch Haftung und Reibung und über den Auflagern, indem sie dort breit geschlagen werden, durch formschlüssige Verankerung her.

Die Umhüllungsbedürftigkeit des Stahlprofils für den Brandfall macht nun ein System sinnvoll, das einem sonst beinahe schon absurd erschiene: scheinbar eine punktgestützte Platte als Stahlprofil-Stahlbeton-Verbund-konstruktion (Lit. 20). Hier steckt der Träger vollständig bis zum unteren Flansch in der Betonplatte (Abb. 38, Lit. 21). Die Hilfsbewehrung für den Brandfall ist mühelos unterzubringen, wenn auch infolge der kleinen Nutzhöhe der erforderliche Stahlquerschnitt erheblich höher ist. Da aber ein Tragwerk nie für sich allein gesehen werden darf, wenn es um die Wirtschaftlichkeit eines Konstruktionsprinzips geht, sondern zum Beispiel die besonders kleinen Konstruktionshöhen, die kleinen Geschoßhöhen und kleinen Fassadenflächen, dazu geringerer Aushub bei Untergeschossen und geringere Höhe des Baugrubenverbaus mit zu Buche schlagen, kann die teurere Decke trotzdem die billigere Lösung als Ganzes sein.

Auch wenn die Fertigung einfacher oder witterungsunabhängiger oder mit beträchtlichem Vorfertigungsgrad möglich ist, kann eine Konstruktion lohnen, wie hier, wenn die Platte zweizonig ausgebildet wird, mit Fertigteilen aus vorgespannten Hohlplatten in der unteren und Ortbeton zur konstruktiven kraftschlüssigen Verbindung aller Elemente in der oberen Zone. Das Prinzip dieser Konstruktion wird inzwischen bereits bei Brücken angewendet.

Diese Konstruktion wirkt allerdings im Vergleich zur erst beschriebenen mehr additiv wie ein System aus Haupt- und Nebenträgern und nicht "symbiotisch" wie Massivplatte und Stahlprofil. Eine nützliche Konstruktion, mehr nicht. Gegenüber den Gestaltungsmöglichkeiten des Typs punktgestützter Platte, der wegen der statisch sehr günstigen Verbreiterung des Stützenkopfes Pilzdecke genannt wird, hat sie nichts zu bieten (Abb. 39).


7.    Mehrschicht- oder Sandwich-Tragwerke: Die Verbindung des Verschiedensten

Die extremste Paarung unter den in Symbiose wirkenden Materialien ist die Verbindung von Stahl mit "Schaumstoff", zum Beispiel Polyurethan-Hartschaum (Lit. 22). Stahl ist hoch tragfähig und leider hochwärmeleitend, Schaumstoff gering tragfähig und sehr gering wärmeleitend, also hochwärmedämmend. Zusammen erfüllen sie den Traum, in einem Bauteil tragende und wärmedämmende Hülle eines Bauwerks zu sein. Zwei Stärken werden verbunden, so daß zwei Schwächen nicht mehr ins Gewicht fallen (Abb. 40).

Darüber hinaus bietet dieses Werkstoff-System Feuchteschutz und Korrosionsschutz durch Verzinkung und Kunststoffbeschichtung. Der kraftschlüssige Verbund entsteht durch Selbstklebung des Polyurethanschaums. In automatischer Fertigung entstehen Dach- und Wandbauteile, die Abbildung 41 zeigt Querschnitte.

Nicht befriedigend ist wegen der Leichtigkeit der Elemente der Schallschutz und nicht befriedigend ist das Brandverhalten. Zwar ist die Feuerwiderstandsdauer wesentlich besser als die des Trapezprofilblech-Warmdachs mit mehrlagiger Dachpappe. Doch wird schon wegen der brennbaren und toxischen Rauchgase der organischen Kernschicht eine Einstufung in eine Feuerwiderstandsklasse nicht erreicht (Lit. 22). Kernschichten aus anorganischen Materialien fehlt leider (bisher) die Eigenschaft des Selbstklebens. Sie müssen ja mittragen in kraftschlüssigem Verbund mit dem Stahl.


8.    Holz - allein hilflos

Holz ist das einzige Material gegenüber allen bisher besprochenen, das ständig nachwächst, anscheinend wächst sogar mehr nach als verbraucht wird. Die Tabelle, herausgegeben vom schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA), die die Auswirkungen auf die Umwelt bei der Herstellung von Baustoffen zeigt, läßt erkennen, cum grano salis, daß im übrigen Holz ökologisch nicht so überlegen ist, wie oft suggeriert wird. Die Liste ist allerdings unvollständig. Sie enthält anscheinend nicht die Auswirkungen der Verarbeitung auf der Baustelle, der Unterhaltung während der Nutzung, des Abbaus und der Entsorgung. Trotzdem, die Tabelle liegt einem Wettbewerbs-Programm für ein großes Bauwerk bei, es gehört zu den geforderten Leistungen, die verwendeten Baustoffe danach zu bewerten.

Die Spalte 6 wurde von mir ergänzt. Sie zeigt, wieviel Kilogramm Material etwa notwendig sind, um 100 kN Last einen Meter hoch zu tragen; da die Materialien unterschiedlich tragfähig sind, sind die auf ein Kilogramm Material bezogenen Zahlen der D0 123 bei Verwendung der Materialien in hochbeanspruchten Tragwerken nicht unmittelbar vergleichbar. Wenn man dagegen jeden Wert der Spalten 2 bis 5 mit der Zahl in Spalte 6 multipliziert, werden die Zeilen vergleichbar. Die Zeilen sehen dann wie folgt aus:

Dennoch ist die Brennbarkeit ein großes Handicap für Holz als Baustoff, denn es ist ja nie sicher, daß es gelingt, schnell genug zu löschen. Fast jede Stadt hat die Zäsuren von Brandkatastrophen in ihrer Geschichte. Das ist der Grund, weswegen unsere Bauordnung die Höhe von Geschoßbauten auf zwei Vollgeschosse beschränkt - es sei denn, ein massiver Kern des Hauses aus Mauerwerk oder Stahlbeton ermöglicht die schnelle und ungefährdete Flucht aus dem Holz-Bauwerksteil. Ein solcher massiver Körper in einem Holzhaus hat noch einen weiteren nützlichen Vorteil: Er dient als Wärme- und Kühlespeicher (siehe Abschnitt 2), denn dafür eignet sich Holz wenig.

Auch im Tragwerk hat Holz ein Problem: die Verbindungstechnik. Schönste und dem Baustoff angemessenste ist das unmittelbare kraftschlüssige Fügen von Holzbauteilen aneinander und ineinander, in unerreichter Vollkommenheit im historischen japanischen Holzbau verwirklicht (Abb. 42, Lit. 23). Diese Verbindungen eignen sich natürlich nur für verhältnismäßig geringe Kräfte, denn auch Beanspruchungen auf Abscheren in der Faserebene erträgt Holz nur bis zu etwa einem Zehntel der für Zug und Druck in Faserrichtung zulässigen Spannung. Darüber hinaus könnten wir, selbst wenn die Zimmerleute die Verbindungstechnik lernen würden, die Arbeit nicht mehr bezahlen.

Nichts führt also um die Konsequenz herum, daß heute sowohl im handwerklichen wie im Ingenieurholzbau die Tragelemente aus Holz nur mit der Hilfe von anderen Materialien verbunden werden, Nägel, Stabdübel, Bolzen, Dübel besonderer Bauart, Blechformteile, auch Beton. Wie schon in historischen Bauten bleibt vernünftig, Holzhäuser auf massive Keller- und Erdgeschosse zu setzen. Auch bei Hallenbauten ist es meist viel einfacher und effektiver, die weitgespannten Holz-Dachtragwerke auf im Stahlbetonfundament eingespannte Stahlbeton- oder Stahlstützen zu setzen als die Holzkonstruktion unbedingt bis auf oder sogar ins Fundament hinunter reichen zu lassen (Abb. 43). Ähnliches gibt es schon länger (Abb. 44): Holzkonstruktionen auf Steinsäulen.

Holz ist empfindlich gegen Nässe. Deswegen sollte Holz außen nur unter großen Dachüberständen verwendet werden (Abb. 45). Alte Holzbrücken haben Dächer (Abb. 46): nicht um die Menschen, sondern um das Holzbauwerk zu schützen!

Knoten im Holzbau, die kraftschlüssige Verbindung mehrerer Konstruktionselemente - Träger mit Träger, Träger mit Stütze, Stab mit Stäben in einem Fachwerk - ist um so näher an der eigentlich erwünschten unmittelbaren Verbindung von Holz mit Holz, je weniger Stahl man braucht und je weniger man vom Stahl sieht. Das Bild zeigt einen Knoten aus der Dachkonstruktion der Kunsthalle Henri Nannen in Emden (Abb. 47, Lit. 24). Das Dach ist ein großes Shed-Dach, das das Obergeschoß der Kunsthalle natürlich belichtet. Die Querträger stoßen stumpf auf die Längsträger und sind mit diesen allein über quaderförmige Laschenhölzer und Stabdübel verbunden. Die Stabdübel, so etwas wie dicke Nägel, die in vorgebohrte Löcher eingetrieben werden, sind die einzigen Stahlelemente im Knoten, man sieht nur ihre leicht herausstehenden Enden.

Abbildung 48 zeigt das Gegenstück hierzu: Hölzer, die in einem Köcher aus Stahl enden. Statisch gibt es keinen Einwand. Da aber auch ein Laie weiß, daß Stahl viel höhere Festigkeit hat als Holz, wirkt ein solcher Anschluß auf mich so, als würde ich meinen Fuß in einen Eisenschuh stecken: unverhältnismäßig.

Das gleiche Mißverhältnis empfinde ich bei dem Knoten der in Abbildung 49 dargestellten Straßenbrücke, ein Holzfachwerk mit Stahlgußknoten (Abb. 50, Lit. 25). Auch dieser Anschluß ist statisch sicher in Ordnung. Mir erscheint der Aufwand unverhältnismäßig, es ist zuwenig Holz zwischen den Stahlknoten, wenn ich die Länge der hölzernen Fachwerkglieder mit der Länge der stählernen Endstücke vergleiche und den Aufwand, jedes Stahlende mit dem Holz durch 20 Stabdübel zu verbinden bei einer zulässigen Toleranz von 0,3 mm (!) für die Stablänge. In dem Knoten werden bis zu zehn Stäbe verbunden. Hier wurde ein Konstruktionsprinzips des Stahlbaus allzu unmittelbar in den Holzbau, besser in einen Stahl-Holzbau übertragen.

Eine schöne Verbindung von Holz und sichtbarem Stahl ist Carlo Scarpa im Castel Vecchio in Verona geglückt (Abb. 51). Holzbalken des Daches werden an einer Stelle, wo ihre Tragfähigkeit alleine nicht ausreichte, mit einer feingliedrigen Stahlkonstruktion unterspannt, so daß, ähnlich wie im Stahlbeton-Profilstahl-Verbundbau, das Holz die Druckzone, der Stahl die Zugzone des Tragwerks bildet. Die gebündelten Stahlstäbe des Stützelements in Trägermitte spreizen sich vor dem Anschluß an das Holz, so daß dieser Anschluß sehr günstig wie eine Einspannung wirkt. Dadurch wird ein seitliches Ausweichen der schlanken unterspannenden Konstruktion verhindert.

Ein einleuchtender Knoten zur räumlichen Verbindung von Holzstäben wurde bei einer Sporthalle in Oulou, Finnland, entwickelt (Lit. 26). Die Halle ist überdacht mit einer Holznetzschale in der Form einer Kugelkappe. Das Stabwerk hat einen Durchmesser von 115 Metern im Grundriß. Die Primärkonstruktion besteht aus Elementen in Kertopuu-Furnier-Schichtholz (= Kerto-Schichtholz), in Dreieck-Struktur angeordnet. Die einzelnen Elemente haben einen Querschnitt von 148/700 mm, bestehend aus zwei Teilen von 74 mm Breite, und sind bis zu 12,5 Meter lang. Die Knoten sind Holz-Stahl-Beton-Konstruktionen. Zwischen die zwei Teile des Schichtholzelements werden zwei Stahlplatten als doppelseitige Nagelplatten eingelassen (Abb. 52). Die aus dem Stabende herausstehenden Laschenenden werden mit dem Stahl-Stern des Knotens durch hochfeste vorgespannte Schrauben verbunden (Abb. 53). Zuletzt wird der Knoten eingeschalt und mit einem hochwertigen wasserarmen Beton ausbetoniert (Abb. 54). Der Beton schützt den Stahl gegen Korrosion. Er ermöglicht in der überwiegend druckbeanspruchten Stabwerks-Schale die Übertragung der Druckkräfte in den Knoten unmittelbar ohne den Umweg über die Stahllaschen oder wenigstens zusammen mit ihnen. Denn er füllt trotz der schwierigen Geometrie den Zwischenraum zwischen den Holzstabenden absolut kraftschlüssig.

Le Grand Palais, das neue Kongreßzentrum in Lille, enthält Fachwerk-Dachträger, deren Obergurt und Füllstäbe Stahl und deren Untergurt Sperrholzplatten sind, die zugleich die unten sichtbare Decke bilden (Abb. 55, Lit. 27), eine "Low-Budget"-Ausführung nach eigener Aussage des Architekten. Rem Koolhaas, auf Kritik an Details eines früheren Bauwerks: "kein Geld, keine Details".

Ich denke, die Beispiele zeigen, wie weit das Feld ist, auf dem wir ernten dürfen.


9.    Ich wünsche mir, daß sich aus dem Gesagten und Gezeigten lernen läßt:

Es gibt rationale Gründe, ein Material zu wählen (Leistungsfähigkeit, Preis, Umweltverträglichkeit) und irrationale (Umweltverträglichkeit, Vorliebe, Vorurteil, Mode). Die irrationalen sind stärker, die rationalen wichtiger.

Man kann über ein Material beim Bauen nicht reden, ohne über Formen zu reden. Jedes Material und jede Kombination von Materialien hat ihre eigenen nur ihr gemäßen Formen, innerhalb derer sie gut und günstig sind. Der Parthenon in Stahl oder Falling Water in Holz sind absurde Vorstellungen.

Gut konstruieren heißt Verhältnisse schaffen, in denen die Tragwerke in ihrer günstigsten Form und Konstellation und die Materialien mit ihren besten Eigenschaften eingesetzt werden können.

Keine Angst vor dem Verschiedensten. Es ist gut und oft ökonomisch, jedes Material in seinem günstigsten Bereich einzusetzen (Lit. 28): Abbildung 56.

Konstruieren und Konstruktionen entwickeln ist eine Kunst: Wissen, Erfahrung und das, was man Intuition nennt, das plötzliche in Einem Sehen aller Einzellösungen in einer Konstruktion ohne Vorbild, sind notwendig, damit eine vollkommene Konstruktion entsteht. Bei Architektur gehört dazu noch ein Organ für zeitgemäße Formen. Jede sichtbare Konstruktion wirkt in der Architektur als Form, ob man das will oder nicht.

Gute Konstruktionen sind nicht ausrechenbar.

Die Worte recyclebar, ressourcenschonend, umweltfreundlich, umweltbewußt, natürliche Baustoffe, (der Begriff "natürliche Konstruktionen" ist ein Widerspruch in sich), energiesparend, ökologisch… dürfen als Forderung oder Feststellung in jeden Abschnitt an geeigneter Stelle eingefügt werden. Für wen sie sich noch immer nicht von selbst verstehen, dem werden sie auch als ständig wiederholte Gebetsformel nicht aufhelfen. Für die Anderen müssen sie nicht mehr ständig wiederholt werden. Ich habe mich daran übergehört, besonders seit ich erlebe, daß diese Formeln in wirklich jeder Reklame unterzubringen sind; auch daß dieselben, die sie ständig im Munde führen, selbst große Bauten in Wettbewerben anbieten und manchmal auch bauen, die verschwenderisch Wärmebrücken enthalten, die enorme Kühllasten produzieren, indem sie ohne Not heiß von Süden oder Westen beschienene Fensterflächen aufweisen oder übergroße ungeschickt ausgerichtete Glashüllen, die mit teuren Konstruktionen gegen die Hitze der Sonne geschützt werden müssen.


Literatur, Anmerkungen

Lit. 1 zitiert nach W. Leppmann: Rilke, Leben & Werk, Scherz Verlag, S. 207

Lit. 2 Christopher Alexander: Notes on the Synthesis of Form, Harvard Paperback

Lit. 3 Christopher Alexander: Systemdenken = moderne Version des Gefühls für Wunder, Baumeister 1968, S. 1452

Lit. 4 Bernhard Tokarz:    Arbeitsbuch des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen, Universität Stuttgart; Konstruktives Entwerfen: Stahlbetonbau

Lit. 5: Lagerhalle mit Werkstattgebäude, Kantine und Technikgebäude in Blumberg, Mark Brandenburg. Architekt: Prof. Johannes Uhl, Ingenieur: Ingenieurgruppe Tokarz Frerichs Leipold

Lit. 6: Stadion in Bari, Architekten: Renzo Piano, Building Workshop, Shinji Ishida, Flavio Marano, Ottavio Di Blasi, Ingenieure: A. Vitone, T. Vitone; Dach: P. Rice

Lit. 7 Peter Buchanan: Renzo Piano Building workshop Bd. 1 und 2, Verlag Hatje/ Phaidon

Lit. 8: 716 Domus 34, Maggio '90

Lit. 9 Bernhard Tokarz: Vorschläge zur Bewehrung von Stahlbetonträgern gegen vorzeitiges Versagen infolge Schrägriß, Beton- und Stahlbetonbau 83 (1988) S. 43

Lit. 10 J. Schlaich, K. Schäfer: Konstruieren im Stahlbetonbau Beton-Kalender 1989/2, S. 679

Lit. 11 Otto Jungbluth: Verbund- und Sandwichtragwerke, Springer Verlag, S. 183 u.f.

Lit. 12 Aluis Maissen: Statisch bestimmte Spannbetonträger mit Spanngliedern aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff im Vergleich zu Stahllitzen, Beton- und Stahlbetonbau 90 (1995), S. 189

Lit. 13 H. Falkner, E. Gunkler: Vorgespanntes Mauerwerk, Bauingenieur 69 (1994), S. 431

Lit. 14: Global Architecture GA 35, A.D.A. Edita Tokio

Lit. 15 Bernhard Tokarz: Design of an Extraordinary Bridge, Proceedings Conceptual Design of Structures, International Symposium University of Stuttgart, Volume II, S. 687

Lit. 16 Bernhard Tokarz: Ein Unterschied wie Tag und Nacht, weitgespannte Dächer mit Tagesbelichtung, db deutsche bauzeitung 124 (1990), S. 46

Lit. 17 H. J. Niebuhr: Brücke über die Roize (Frankreich). Kurze Technische Berichte, Bauingenieur (1993), S. 434, Fig. 1

Lit. 18 F. Tschemmerneg, A. Neulichedl: Entwicklung einer ankerlosen duktilen Verbundplatte, Bauingenieur 68 (1993), S. 313, Fig. 1 a

Lit. 19 K. Roik, C. Diekmann, K. Schwalbenhofer: Verbundstützen mit Stahlfaserbeton, Bauingenieur 62 (1987), S. 179

Lit. 20 R. Baehre, R. Pepin: Flachdecken mit Stahlträgern in Skelettbauten, Bauingenieur 70 (1995), S. 65

Lit. 21 M. Fontana, W. Borgogno: Brandverhalten von Slim-Floor-Verbunddecken, Stahlbau 64 (1995), S. 168 und Bild 4

Lit. 22: L 11, S. 31, S. 336 und S. 501

Lit. 23 Norman F. Carver Jr.: Form and Space of Japanese Architecture, Shokokusha Tokyo S. 40 und S. 63

Lit. 24: Kunsthalle Henri Nannen, Emden, Hinter dem Rahmen. Architekten: Ingeborg und Prof. Friedrich Spengelin, Ingenieur: Ingenieurgruppe Tokarz Frerichs Leipold Schmidt

Lit. 25 W. Schmitt: Straßenbrücke über die Isar - Holzfachwerkkonstruktion mit Stahlgußknoten, Bauingenieur 70 (1995), S. 383 und Fig. 3 und Fig. 10

Lit. 26 Karl Moser: Ein Meilenstein auf dem Weg zu wirtschaftlichen Großüberdachungen, bauen mit holz 11/85, Bilder 3, 5, 6, 7

Lit. 27: Le Grand Palais, das neue Kongreßzentrum in Lille, Architekt: Rem
Koolhaas / OMA u. a., Ingenieur: Ove Arup & Partners u. a., Bauwelt 1994, Heft 44, S. 2455, Bild S. 2460

Lit. 28 Bernhard Tokarz: Industriebau… der Anteil der Ingenieure, db, deutsche bauzeitung 10/86, S. 10

Lit. 29 Adolfo Tamburello: Monumente großer Kulturen, Japan, Ebeling Verlag


Der Autor

Prof. Dipl.-Ing. Bernhard Tokarz, geboren am 22. März 1931 in Oppeln, Oberschlesien, studierte Bauingenieurwesen und Architektur an der TH Stuttgart. Seit 1957 ist er als freiberuflicher Beratender Ingenieur und seit 1969 als Prüfingenieur für Baustatik tätig. Von 1973 bis 1988 lehrte Bernhard Tokarz als o. Professor für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen an der Universität Hannover und nahm 1988 den Ruf an die Universität Stuttgart, Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen, an. Arbeitsschwerpunkte: Weitgespannte Dachtragwerke; neue Details für Tragkonstruktionen. Ingenieurbüro für Hochbau, Brückenbau, Industriebau und Sondergebiete des Konstruktiven Ingenieurbaus mit Gerd Frerichs und Lothar Leipold in Hannover und Stuttgart.